Die neue Entgrenzung (Band I)

 

Wir können das Wesen unserer kosmischen Umwelt nicht allein durch Denken erfassen

Martin Rees

 

Der Umstand, dass die Dimensionierung des Kosmos ein für uns nicht zu bewältigendes Vorstellungsproblem darstellt, öffnet im wahrsten Sinne des Wortes neue Horizonte. Wirklich Großes erscheint uns übermächtig und unberührbar. Doch ist es nicht der Blick ins Universum allein, der uns mit Dimensionen konfrontiert, die sich schwerlich begreifen lassen: der Blick ins Innere offenbart ähnliche Probleme.
Dieser Umstand liegt darin begründet, dass beide Bereiche jene Grenzenlosigkeit widerspiegeln, die jede Absicht, sie in eine stetige Ordnung oder zumindest in Übereinstimmung mit der eigenen Erfahrungswelt zu bringen, zunichte macht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der großen inneren und der großen äußeren Sphäre ist, dass wir die innere nutzen können, um die äußere zu beschreiten. Zu diesem Zweck lässt sich ein Potenzial nutzen, zu dem wir einen prinzipiell unbeschränkten Zugang haben: die Virtualität.
Innerhalb der Imagination nämlich stellt jedes gedankliche Staubkorn bereits die Plattform für ein Schauspiel dar, das die Dimensionie-rung der Welt in unsere Erfahrungswelt zu transferieren vermag: die Reise in das eigene Reich der Potenziale.
Innerhalb der Welt der Möglichkeiten Sind die meisten Behinderungen des Geistes hausgemacht und abhängig von Dispositionen. Der Blick durch zuvor verschlossene Türen bietet die Gelegenheit, jene Steine wahrzunehmen, die uns die eigene Denkwelt in den virtuellen Weg legt. Die Bühne des Lebensschauspiels sind wir selbst. Und auch auf das, was gespielt wird, haben wir einen (wenngleich auch begrenzten) Einfluss.
Was also versperrt uns den Weg in eine erweiterte Erfahrungswelt? Zunächst basiert der Wunsch, die eigene Umwelt zu sortieren, auf dem schlichten Ziel, überleben zu wollen. Eine Reduktion unserer Außenwelt im Sinne einer Entwicklung gestaltpsychologischer Wahrnehmungsmuster war biologisch notwendig, um Orientierung überhaupt erst zu ermöglichen und Reizüberflutung zu vermeiden. Wesentlich ist jedoch letztlich nicht die Quantität von Informationen, sondern ihre Qualität.
Sicher ist die Entstehung freier Gedanken in Situationen begünstigt, in der sich die Probleme des täglichen, nackten Überlebenskampfes nicht stellen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass jene Fantasiefähigkeiten, auf die in diesem Rahmen immer wieder rekurriert wird,

nicht zuletzt auch die Grundlage einer Welt darstellen, die jedem ihrer Bewohner die weitest mögliche Freiheit und Sicherheit garantiert.

Träume und Utopien unterscheiden sich, sofern sie vorhanden sind, im Kern in weitaus geringerem Maße als man im Allgemeinen annehmen möchte. Ich werde später auf vorhandene Grundmuster eingehen, und ich werde erläutern, warum Lebewesen nur begrenzt tätige, kreativ handelnde Strukturen darstellen. Vielmehr sind sie Elemente eines großen Ganzen, dessen Einzelteile hin und wieder Entdeckungen machen, die dazu führen, dass sie die Zustände, von denen sie prinzipiell schon zuvor umgeben waren, als Neuerung wahrnehmen. Um diesem Phänomen Rechnung zu tragen, erfanden die Menschen den mittlerweile arg gebeutelten Begriff der Idee.

Die Tendenz, die Umwelt zu sortieren und zu kategorisieren, entspricht jedoch keineswegs den angesprochenen Steinen, mit denen wir uns selbst den Weg versperren. Problematisch sind hingegen vor allem die Muster, die wir zugrunde legen sowie die Methoden, die wir verwenden, um uns die Richtigkeit der vorgestellten Strukturen so lange selektiv zu bestätigen, bis wir an die Grenzen ihrer Wahr-nehmbarkeit stoßen.
Bedauerlich ist, dass die bis dato als vertrauenswürdig geltende Methodik der Naturwissenschaft erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an diese Grenze gelangte und ihr bis dahin gültiges, mechanistisch orientiertes Weltbild, wenngleich unter Schmerzen, revidieren musste. Positiv zu vermerken bleibt andererseits, dass diese Entwicklung überhaupt erst die Wege eröffnet hat, zu erkennen, wie wichtig die Rückführung der Vorstellung einer künstlich zersplitterten und wissenschaftlich sezierbaren Ordnung in eine komplex vernetzte und dynamisch strukturierte Welt ist. Die Grundannahmen des mechanistischen Weltbildes basieren auf einem, an statischen Vorstellungen orientierten, philosophisch reduktionistischen (1) Ordnungsmuster, das wissenschaftlich nicht haltbar geblieben ist, und das zumindest der wahrnehmbaren Wirklichkeit (2) nicht mehr entspricht.
Dieser Begriff des Statischen machte sich einerseits fest an der Ansicht, der Kosmos funktioniere nach festen Regeln, die es nur zu ergründen gäbe, wie etwa Descartes behauptete. Descartes war es auch, der den Begriff des "Tieres als Maschine" (3) prägte, und damit das Prinzip des Einzelelements als isolierbarem Funktionsträger hoffähig machte. Heute wissen wir, dass ein Organismus ebenso wenig der Summe seiner Einzelelemente entspricht, wie es der Kosmos selbst tut.
Das mechanistische Weltbild resultierte andererseits in der Annahme, die gegebene Ordnung sei ewig. Das musste so sein, da Gott selbst das Attribut des Ewigen trug. Gleichzeitig war die Welt Gottes Werk und galt somit ebenfalls als ewig. Diese Zuordnung des Ewigen ist indes keineswegs christlich-konservativer Herkunft.

Dass es also nur einen Himmel gibt, unentstanden und ewig und gleichmäßig bewegt, sei soweit festgestellt, behauptete bereits Aristoteles.(4) Selbst Albert Einstein konnte sich, trotz seiner revolutionären Entdeckung der Relativität kosmologischer Größen, nicht mit der Tatsache eines expandierenden, dynamischen Universums abfinden und ersann aus diesem Grunde eine "kosmologische Konstante", die er als freie Erfindung in seine Gleichungen einfügte, um das Weltall zum Stillstand zu bringen - ein Fehler, den er später selbst als "größte Eselei seines Lebens" (5)bezeichnete. Seit Heisenbergs Entdeckung der Unschärferelation wurde darüber hinaus deutlich, dass der Begriff der Wirklichkeit, ebenso wie ihre Beschreibung, relativ geworden ist. Betrachtet man beispielsweise das Phänomen der Welle-Teilchen-Dualität eines Elektrons, so stellt man fest, dass dessen Erscheinungsform von der Absicht des Beobachters abhängt. Es lässt sich, je nach Untersuchungsmethode, als Teilchen oder als Welle auffassen. Das Elektron selbst ist also sowohl Teilchen als auch Welle - ein Zustand, dessen imaginäres Abbild in unserer Erfahrung nicht vorhanden ist. Materielle Doppeldeutigkeiten erscheinen uns irreal, weil sie innerhalb der Notwendigkeiten unserer Welt keinen Platz haben, wenngleich wir Zweideutigkeiten auf der virtuellen Ebene der Sprache durchaus akzeptieren. Dieselbe intolerante Behandlung erfahren in der Regel auch die sogenannten Fermionen (6), jene kleinen Teilchen, die die Eigenschaft besitzen, nicht etwa nach einer 360 Grad Drehung ihr ursprüngliches Erscheinungsbild wiedererlangt zu haben, sondern erst nach zwei kompletten Rotationen. Phänomene wie diese entsprechen unserer Vorstellung von Realität nicht. Sie sind daher jedoch keineswegs irreal, sondern fordern lediglich die Erweiterung unserer Vorstellungskraft. Die Wissenschaft stellte fest, dass sich die physikalischen Eigenschaften von Mikro- und Makrokosmos, trotz augenscheinlich unterschiedlicher Dimensionierung, nur marginal voneinander unterscheiden. Die Erscheinung der Dinge hing plötzlich stärker vom Wahrnehmenden selbst ab, als es das bisherige Bild von Wirklichkeit erlaubte. Weder die kosmologische, noch die unvorstellbar kleine Welt der Quanten, ist statisch, ewig oder eindeutig. Eine vorhersagbare, auf mathematischen Regeln basierende Welt ist folglich eine Fiktion. Offene Fragen, die sich auf dem Weg der Physik in die Unsicherheit des nur noch mathematisch Beschreibbaren ergaben, verlangten nun Herangehensweisen, die jedes Schwarzweißdenken ebenso vermeiden wie eine Zuordnung der Ereignisse zu fixen, vorhersagbaren und eindeutigen Bildern. Kosmologie und theoretische Quantenphysik bewegen sich derzeit methodisch auf ähnlichen Pfaden wie die Kunst. Intuitive Herangehensweisen und die Imagination neuer Muster, deren eigene Gesetzlichkeiten zu neuen Schlüssigkeiten führen, verbinden die vermeintlich unvereinbaren Bereiche der emotional-intuitiven einerseits, und der logisch-vernunftorientierten Herangehensweise andererseits mit den Formen dieser Welt. Beobachtbarkeit hat ihre Grenzen, und es braucht eine Menge Mut, sich den Erscheinungen, die keine sind, zu stellen. Die Eindeutigkeit hat ihren Wirklichkeitsanspruch verloren. Wir haben nicht zuletzt anhand der Entwicklungen in den Wissenschaften gelernt, dass wir gezwungen sind, Vieldeutigkeiten zu akzeptieren und in den großen Theorierahmen einzubinden. Newton und Descartes machten, ebenso wie Galilei, Kepler oder Kopernikus, den Fehler, anzunehmen, Gott sei Mathematiker. Gott erscheint mir, falls diese Kategorien überhaupt nötig sind, vielmehr als ein offenbar fantastischer Chaot, der seinen Geschöpfen ermöglicht, Ordnung in den Bereichen zu erkennen, die für sie überlebensnotwendig sind. Selbstverständlich aber bleibt es ihnen freigestellt, selbstständig und eigenverantwortlich höhere Ordnungen in den Bereichen zu suchen, die über ihr reines Überlebensinteresse hinausgehen. Diese Suche ist sowohl Teil der Freiheit, die unseren Handlungen zugrunde liegt, als auch eine Folge jener Sehnsucht, die sich beim Anblick der gegebenen Grenzen, die in diesem Rahmen später als Goldener Käfig beschrieben werden, einstellt. Und hier liegt auch der Ursprung dieses Projekts.

Anmerkungen ( für exakte Literaturangaben siehe hier)

 

(1) vgl. Capra 2001, S.11ff

(2) Ich verwende den Begriff der Wahrnehmung in Entsprechung zum Kantschen Begriff der Sinnlichkeit, der die Fähigkeit, eigene Gedanken wahrzunehmen, ebenso als Form der Wahrnehmung versteht wie beispielsweise den Gesichtssinn.

(3) Zitiert nach: Capra, Fritjof, 2001,S.13

(4) Aus: Wesen, Form, und Bewegung der Gestirne und der Erde, in: Rüegg 1986, Bd .I, S.145

(5) Zitiert nach Hawking 2001, S.29

(6) Fermionen tragen, im Gegensatz zu den ihnen verwandten, positiv geladenen Bosonen, negative Grundzustandsenergien. Bosonen weisen jedoch einen ganzzahligen "Spin" auf, der unserer Erfahrungswelt näher kommt. Ein identisches Erscheinungsbild entspricht zum Beispiel einer Umdrehung von 180 (wie etwa bei einem Rechteck) oder 360 Grad. Vgl. dazu: Hawking 2001, S.57ff

 

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