Realität als Konstrukt (Band I)
----------------------------------------------------------------- Vom Schein der Wahrheit

 

 

 

 

Nichts geschieht zweimal.

Wirklichkeit lässt sich nicht bestimmen, definieren oder exakt beschreiben. Sie lässt sich nur erfahren, und sie erschafft sich damit wiederum selbst. Insofern besitzt das ganze System der Wirklichkeit autopoietischen Charakter und ist komplett selbstreferenziell. Realität gebärt sich während und weil sie sich selbst wahrnimmt. Sie erschafft sich selbst durch die Reflexion der ihr innewohnenden Einzelelemente.
Realität lässt sich, ebenso wie ihre eigene Beschreibung, nur umkreisen, und mit jeder Umrundung verändern wir sie, so wie die Absichten eines beobachtenden Physikers die messbare Wirklichkeit der Quantenwelt verändert. Wirklichkeit lässt sich nur mit Hilfe von Existenz und kommunikativen Ebenen erforschen. Strukturell existiert daher kein Unterschied zwischen neuronalen Netzen, dem Kosmos, dem abstrakten Begriff der Wirklichkeit sowie dem Gedanken darüber.

Realität ist ein Konstrukt, wobei unser Bild von Wirklichkeit all das ausschließt, was wir als potenziell nicht möglich betrachten.
Im Laufe ihrer Entwicklung hat die Menschheit jedoch nicht selten lernen müssen, dass anthropozentrische Deutungen und Beschneidungen der Welt den eigenen Erfahrungen, und damit der eigenen Sichtweise der Welt, plötzlich nicht mehr entsprach. Allzu oft mussten diese Vorstellungen zugunsten neuer Erkenntnisse und Modelle revidiert werden.
Es ist vermessen, einen grundlegenden Anspruch auf Wirklichkeit zu stellen, es sei denn, man definierte sie nach persönlichem Gutdünken und ließe sie sozusagen um unsere eigene Existenz herum rotieren wie die Erde um die Sonne. Aufgrund der menschlichen Tendenz, in die Hybris eines Selbstverständnisses als Radnabe der Welt zu verfallen, ist auch unser Verhältnis zum Begriff der Virtualität, dem als möglich Vorgestellten, äußerst problembelastet. Es begrenzt zwar nicht zwangsläufig Dinge, Ereignisse, Entitäten oder Seinszustände, nur weil sie nicht in einer Form existieren, die wir mit Hilfe unserer Sinne oder unserer Logik des Denkens erfahren könnten, denn sonst gäbe es weder Utopien, noch Fantasie. Dennoch schließen wir - und das nach Belieben - all das aus, was uns im Rahmen unserer Vorstellungskraft als zunächst nicht nachvollziehbar erscheint.
Nun entspricht der Wunsch, Muster zu entdecken und Ordnungen zu suchen, den Grundlagen unserer Wahrnehmung und ist damit Teil unserer Natur. Dennoch stellt er zugleich das Filter dar, durch das wir gewöhnlich die Zustände der Welt betrachten. Ein Schöpfer mag uns ein erweiterbares Bild von Wirklichkeit gefügt haben, und dennoch ist unsere Vorstellung davon, wie die Welt sei, ein goldener Käfig. Schon der flüchtige Blick durch die Gitterstäbe versetzt uns in so große Unsicherheit, dass wir uns in der Regel darauf verlegen, das zu sehen, was wir letztlich und tatsächlich sinnlich nachvollziehen können und wollen (1) .
Zentrales Ziel und Zweck der menschlichen Kultur ist es, die Realität des Todes zu verdrängen, damit unser Bewusstsein einer vorgestellten Zeitspanne Sinninhalte zumessen kann, die ansonsten in Todesangst oder Todessehnsucht untergingen, durch die jede kreative und produktive Handlung gelähmt würde. Dieser zeitliche, also dimensional definierte Begrenzungsrahmen unserer Vorstellungskraft, bestimmt nicht zuletzt auch unsere Idee von Realität, die durch die selben Muster der Grenzziehung bestimmt ist.
Die dahinter verborgene Angst vor dem Verlust unserer selbst hat, einmal durchschaut, rein biologische Zwecke. Der zentrale, fehlerhafte Aspekt unseres Bildes von Wirklichkeit ist folglich seine scheinbare Eindeutigkeit.
Dabei nehmen wir bereits nicht nur jene Bestandteile der Welt als irreal wahr, die uns als nicht vorstellbar erscheinen, sondern auch jene, die wir uns zwar vorstellen können, die aber aufgrund ihrer inhärenten Offenheit unseren Denkstrukturen nicht entsprechen. Dabei entstehen nicht nur Probleme in der Rezeption lyrischer und künstlerischer Prozesse, sondern auch in der Wahrnehmung neuerer wissenschaftlicher Modelle, die die Naturwissenschaften eindeutig als Geisteswissenschaftlen entlarven.

Einige der für diese Arbeit grundlegenden neuen Basistheorien sollen hier kurz angesprochen werden. Es handelt sich dabei um verschiedene Theoriansätze, die nicht zuletzt aufgrund ihres revolutionär offenen Charakters und der prägnanten Freiheit ihrer Entwürfe eine hohe Erklärungskraft für bisher unklare naturwissenschaftliche und philosophische Problemfelder aufweisen.
Dies ist zum ersten die, von Varela und Maturana stammende Konzeption des Lebens als autopoietisches, also selbsterzeugendes System, dessen Bezug zur physikalischen Welt hier ausgeweitet werden soll.
Zweitens sei die Rupert Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder genannt, die zum einen die Existenz räumlich ungebundener Feldstrukturen postuliert, über die Informationen an zwischen einzelnen biologischen Arten ohne Kontakt der einzelnen Individuen zueinander gespeichert und weitergegeben werden können - ein Phänomen, das wissenschaftlich überprüfbar ist und, im Gegensatz zum Darwinschen Zufallskunzept, "artenvererbte" Lernfähigkeit sowie evolutionäre Prozesse überzeugend erklärt. Zum anderen bietet Sheldrake darüber hinaus eine Antwort auf die ungelöste Frage nach der Speicherung der Informationen auf neuronaler Ebene. Diese ist, im Gegensatz zur Weitergabe von Reizen, hinsichtlich ihrer Verortbarkeit bislang ungeklärt. Indem Sheldrake den Hirnen der Lebewesen Empfängerfähigkeiten zumisst, die, je nach Entwicklungsstufe und individueller Situation, im gegebenen Lebensraum Informationen abrufen können (diese also "erinnern"), sie weiter verarbeiten und anderen zur Verfügung stellen können.
Drittens beziehe ich mich auf Ervin Laszlos Theorie der Einheitlicher Wechselwirkungsdynamik, die das Prinzip der morphogenetischen Felder ausweitet und eine holografische Speicherung von Informationen im Bereich des Quantenvakuums vorschlägt, das seinerseits durch virtuelle Wechselwirkungen im Bereich der Nullpunktenergien gekennzeichnet ist. Zentrales Kennzeichen dieser Felder ist ihre räumliche Ungebundenheit, die einen Informationenaustausch auf der Ebene longitudinaler Skalarwellen praktisch in Nullzeit ermöglicht.

Wirklichkeit ist also, je nach der Struktur der ihr zugrunde liegenden Potenziale, für unsere Wahrnehmung sowohl alles als auch nichts. Sie besitzt jedoch die potenziellen Energien des Existenten ist damit im Kern virtuell strukturiert, d.h. sie kann sein.

Es hängt von der strukturellen Ausprägung des jeweiligen Subjekts und seinen Dispositionen ab (zum Beispiel, ob es Bewusstsein besitzt oder nicht, ob es fliegen kann, oder nicht, wie viele Dimensionen es wahrnehmen, bzw. sich vorstellen kann), welche Struktur es seiner Wirklichkeit zumisst.

------------------------------------------------ Virtualität als Realität des Potenziellen
Potenziale treten dimensionsungebunden auf.
Sie sind dem Geschehen übergeordnet. Ihre jeweilige Bestimmung, Festlegung oder Beobachtung in Form eines Geschehnisses stellt - im wahrsten Sinne des Wortes - die In-formation der Welt über einen neuen Zustand dar. Potenziale sind Möglichkeiten, die als Zustände auch in parallelen Dimensionen beobachtbar sind. Dort kann sich ihre wahrnehmbare Form jedoch deutlich von dem von uns beobachteten, jeweiligen Phänomen unterscheiden.

Jedes lokale wie zeitliche Element, jeder Ort, der von den Dimensionen geteilt und bestimmt wird, besitzt das Potenzial zur Ver-änderung. Jede Sekunde, jeder Mikrometer, jeder spontane Einfall und jedes Gefühl besitzen nur sich selbst. Sie bestehen aus zwei Zuständen: sie können so sein, wie sie sind, oder eben nicht, so geartet oder nicht so geartet, existent oder nicht. Das ist ein erstes Seinsprinzip.
Alles, was darüber hinaus geht, gehört zum zweiten Seinsprinzip. Es ist bestimmt durch die Form, die das jeweilige Element besitzen könnte und mit der auch ihr potenzieller Inhalt verbunden ist. Das zweite Prinzip beschreibt also die in der jeweiligen Existenzsituation, d.h. in der Raumzeit und allen weiteren (von uns nur mathematische beschreibbaren) Dimensionsebenen, gegebenen Potenziale des Seinszustandes.
Durch den Ist-Zustand ist eine Entscheidung darüber, welche Eigenschaften ein Element hat, jedoch absolut bestimmt. Die Definition der Rahmenbedigungen dieses Ist-Zustandes obliegt jedoch dem Wahrnehmenden. Jemand, der unserer Raumzeit folgt, könnte die Potenzialstruktur verändert wahrnehmen.
Offene Potenziale an sich sind nur dort gegeben, offen und eventuelle auch wählbar, wo sie nicht bereits bestimmt sind. Sie sind in allen Bereichen bestimmt, und dies bezieht sich auf die Raumzeit und auf alle weiteren Dimensionen, in denen es sie bereits gab. Weil sie existieren, existiert auch das Potenzial ihrer Bestimmung und Festlegung, d.h. ihrer Veränderung. Kein Potenzial entsteht am selben Ort und zur selben Zeit zweimal. Potenziale stellen demnach Speichermedien dar, deren Flexibilität durch die Ablage von Informationen aufgehoben wird. Demnach sind die Möglichkeiten eines Potenzials eingeschränkt, sobald es sie gibt. Die Möglichkeiten einer Situtation sind begrenzt, sobald das Potenzial für ihre eigene Existenz gibt, sie also potenziell ist.
Im Fluss der Zeit ist jeder Bruchteil der Welt einmalig. Ein Ort ist buchstäblich nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums vorhanden, betretbar oder erlebbar. Aufgrund des Zusammenhangs der Raumzeit sowie der anzunehmenden Wechselwirkung zwischen den uns bekannten und weiteren, übergeordneten Dimensionen, sind alle Momente als deren Kombination in ihrer Existenz einmalig.
Momente sollen daher nicht als Zeiteinheit, sondern als Beschreibung des einmaligen Auftretens einer von unterschiedlichen Dimensionszuständen bestimmten Situation verstanden werden.
Wir bewegen uns rasend schnell durch Raum und durch Zeit. Eine Handbewegung ist an der selben Stelle ebenso wenig wiederholbar, wie sie zum exakten Zeitpunkt der Handlung noch einmal ausgeführt werden kann. Das gilt auch für Ideen, Gedanken und Gefühle. Sie alle bewegen sich, trotz ihrer scheinbaren Anbindung, mit rasender Geschwindigkeit durch das All.
Die Erde dreht sich am Äquator mit 1669 km/h. Der gesamte Planet rast mit 107.280 km/h (29,8 km/Sekunde) um die Sonne. Das entspricht der 50fachen Geschwindigkeit der Concorde. Das komplette Sonnensystem bewegt sich mit etwa 250 km in der Sekunde um das Zentrum der Milchstraße. Die Milchtraße selbst bewegt sich mitsamt der lokalen Galaxiengruppe mit etwa 500 km in der Sekunde in Richtung des Virgo-Galaxienhaufens. Diese Reihe ließe sich bis hin zu dem, in seiner Gesamtheit, expandierenden Universum forführen. Alles ist demnach dynamisch.
Dennoch eilen wir uns selbst, sozusagen scheibchenweise, hinterher. Die Möglichkeiten der einzelnen Momente sind nur in dem, unserem Erleben folgenden Raum, also auch in der uns folgenden Zeit, wieder veränderbar. Wir selbst können das nicht tun. Aber wir können es erleben. Wir erleben diesen Prozess, vielleicht fälschlicherweise, als Fiktion. Die Auflösung von Raum und Zeit erscheint uns in Begriffen wie Traum, Zufall, Fantasie, Idee, Möglichkeit, Erinnerung, Hoffnung und vielen anderen damit verknüpften Bedeutungen, die sich mit dem prinzipiell Möglichen befassen.
Auch Situationen sind, auf der Basis der zugrunde liegenden Potenziale, prinzipiell änderbar. Aber diese Veränderung verlangt zunächst, dass wir die Potenziale entdecken und wahrnehmen. Mit Hilfe der vielfältigen Erlebnisdimensionen unseres Gehirns sind wir dann in der Lage, die Schichten der aufeinander folgenden Momente dieser Welt nachzuvollziehen, selbst wenn sie nicht für unsere Augen und Ohren erfahrbar sind.
Es zeigen sich dann die Öffnungen, durch die die fast unendlichen Möglichkeiten der Welt, in der wir leben, entdeckt werden können und Formen annehmen, die verständlich und vielleicht kommunizierbar sind.
Alles, was wir tun müssen, ist, uns frei durch Zeit und Raum zu folgen.

Genau darin liegt das Ziel dieses Projekts.

 

 

 

Anmerkungen (Literaturangaben siehe hier)

(1) Man bedenke die Gefühle, die der Gedanke an den Tod in Menschen auszulösen vermag, da bereits die Vorstellung davon uns in Bereiche zwingt, die außerhalb der belegbaren Erfahrungswelt liegen. Unsere beispielhafte Abhängigkeit von der Anzahl der Dimensionen, in der wir leben, wird in diesem Sinne ebenfalls deutlich: die Vorstellung des Zustands, in dem wir uns vor unserer Geburt befanden, versetzt uns keineswegs in Angst und Schrecken. Anders ist es mit der Zukunft. Da uns unsere Zukunft irgendwann in Begleitung unseres Todes erreichen wird, ist es bereits die Empfindung der Zeitdimension als Einbahnstraße, die uns dazu zwingt, unser Lebensende als Bevorstehendes wahrzunehmen.



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